„Lieber Freund,
letzten Dienstag musste ich mich in Selbstbeherrschung üben, denn ich entschied mich bei etwas kühleren Temperaturen für festes Schuhwerk ohne dabei zu bedenken, dass zwei Tage zuvor eine Mücke an meinem linken Fuß Blut abgezapft hatte. Nun bemerkte ich recht schnell, dass das Innenfutter stetig an der Einstichstelle entlangrieb und damit einen unbändigen Juckreiz auslöste. Da ich mich allerdings bereits auf dem Weg befand, lernte ich auch bei einem Zwischenstopp mit Hilfe des jungen Mannes mit Aloha-Spirit, dass geistige Ablenkung dem Drang zum Kratzen entgegenwirkte. Mücken waren seit letztem Sonntag nicht die einzigen Lebewesen, die in meinen Fokus gerieten. Neben immer wieder vorbeiflatternden Schmetterlingen, die in der Luft zu tanzen schienen, nahmen mich auch Elefanten seither von Zeit zu Zeit geistig ein, ohne dass ich wirklich ahnen konnte, welche Bedeutung sich dahinter versteckt.
Bankgeschäfte führten mich an diesem Sonntag zunächst in die Innenstadt und da ich mir noch unschlüssig darüber war wohin es mich zog, nahm ich erst einmal auf einer Bank an einem Platz vor einer Kirche meinen Sitz ein. Dort gab ich mich dann den Beobachtungen um mich herum hin und ließ Gedanken wie Wolken am Himmel vorbeiziehen. Mein Augenmerk fiel dann auf ein riesiges Banner, das an der Kirche befestigt war und unter anderem auf eine Foto-Aktion mit dem Titel „Repicturing Homeless – Obdachlose anders sehen“ hinwies. Das Vorher-/Nachher-Portrait des Herrn wies bei der Nachher-Aufnahme große Ähnlichkeiten mit einem italienischen, modebewussten Herrn auf, den ich kenne und ähnelte im Vorher-Bild dem Konterfei von Robert de Niro in einer seiner Filmrollen. Doch in allererster Linie sah ich einen Menschen, dem andere das Label „obdachlos“ wie ein Brandzeichen appliziert hatten. „Kleider machen Leute“ heißt es im Volksmund und auch wenn ich mir dessen bewusst bin, dass wir visuelle Wesen sind, erinnerte es mich vor allem an das dänische Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, in dem statt der Wahrheit lieber Ansehen und Wohlstand gewählt wurde, bis ein Kind die Welt wieder gerade rückte. Mich lehrte das Leben immer hinter die Kulissen zu schauen und sich nicht von dem äußeren, oftmals schönen Schein blenden zu lassen und so hatte ich bisher auch das Glück mit Menschen jeglicher Couleur in Kontakt zu kommen. Doch zurück zu den Elefanten oder wie es weiterging.
An den angehenden Schriftstellerkollegen entsandt ich von der Bank aus eine Nachricht und wenig später klärte sich meine nächste Wegstation, die mich mit ihm und neuen Orten in Verbindung brachte. Mit Schvarz-Kaffee und Käsekuchen von der australischen Tortenkönigin tauchte ich erst einmal alleine in dieses Hinterhof-Garagen-Café an der stillgelegten Bahntrasse ein. Stylisches Interieur mit großem Holztisch und Hipster-gleiche Gäste fielen in der Privatrösterei ins Auge, genauso wie der junge Mann mit japanischem Namen, den ich bereits von einem anderen Ort her kannte. Die Sommelier-gleichen Gesprächsinhalte eines bärtigen Herrn mit seiner Herzensdame zu Kaffeesorten, Duft und Nuancen weckten nicht mein Interesse und so freute ich mich über den Anblick des Freundes, der herbeigeradelt kam. Nach eingehenden Worten zu den Eindrücken des bisherigen Tages überraschte uns dann noch der Besuch des Herrn ohne „D“, den ich seit dem Silvestertag nicht mehr gesehen hatte. Entsprechend groß war die Wiedersehensfreude, die sogar fotografisch mit Spaß und „Schnick-Schnack-Schnuck“-Handspiel festgehalten wurde. Nach einer Weile entschwand der Mann ohne „D“ auch schon wieder und nach einer weiteren Getränkerunde beschlossen Schriftsteller und Schriftstellerin kurzerhand die restlichen Sonnenstunden für einen Ausflug zum nahe gelegenen Grafenberger Wald zu nutzen. Nun, was soll ich weiter sagen?
Es war erhellend, es war herzerfrischend, es war traumhaft schön. Der Wald im Nordosten der Stadt mit seinen riesigen Bäumen soweit das Auge reicht, bot herrliche Sinneseindrücke und wenn wir für einen Moment innehielten, hörten wir die zahlreichen Vögel hochoben in den Baumwipfeln singen. Was sie sich wohl zu erzählen hatten? Das satte Grün der Blätter, der Duft des Waldes und das glitzernde Sonnenlicht, das immer wieder durch die Baumkronen blitzte, beruhigte die Sinne für den Augenblick. Wir erforschten die Wege, erklommen steile Hügel mit schiebenden Drahteseln, um erschöpft auf einer Holzbank wieder zu Atem zu kommen und erfreuten uns an nachfolgenden Bergabfahrten, die uns den Wind um die Ohren bliesen. Der Weg zum Wildpark führte nur zu verschlossenen Toren und so parkten wir unsere Drahtesel, um abermals in den Wald einzutauchen, wo uns bald auch die Mücken begrüßten. Somit verabschiedeten wir uns von ihnen auch wieder recht schnell, traten den Rückweg an und ohne den genauen Anlass noch nachvollziehen zu können, begann der Freund über Elefanten zu sprechen. Dies führte meinerseits zu Erzählungen über den grauen Riesen aus meiner Vergangenheit, die mich mit ihm immer mal wieder in Berührung gebracht hatte. Wir entfesselten unsere Drahtesel, gingen ein Stück des Weges und plötzlich bemerkte der Freund, dass wohl ein ziemlich junger Erdenbürger seinen Schnuller verloren hatte. Neugierig fragte ich nach der genauen Stelle und ohne zu wissen was mich genau dazu bewog, hob ich den Sauger vom Boden auf. Als ich ihn nun in meinen Händen von allen Seiten betrachtete, entdeckte ich auf dem Schild die Darstellung eines kleinen, grünen Elefanten: spooky.
Ein weiterer Zwischenstopp führte uns dann zur Rennbahn im Wald, die ich bisher noch nie von Nahen betrachtet hatte. Das gesamte Areal zeigte sich recht imposant und so flanierten wir entlang der Bahn zu den Tribünen, die mich in ein Jahrhundert träumen ließen, in dem die Damen wie in dem Film „My Fairlady“ mit langen Kleidern und riesigen Hüten und die Herren mit Frack und Zylinder dem Pferderennen beiwohnten. Das nächste Rennen ist für August angekündigt und die Startzeit, die auf den Punkt genau meine Geburtszeit und meine Glückszahl trifft, veranlasst eventuell zu einem weiteren Besuch und der ersten Wette meines Lebens. Nachdem ich den Freund verabschiedet hatte, entdeckte ich auf dem Nachhauseweg noch britische Hotelerie, die mich an royale Ereignisse erinnerte und freute mich über Eindrücke vom Segelschiff in luftiger Höhe mit Ausrichtung nach Hawaii und reflektierenden Parkansichten vor untergehendem Sonnenlicht.
Einer Einladung folgend traf ich am nächsten Tag in den Abendstunden bei der doppelnamigen Dame ein, die für ein paar Wochen nur im hohen Norden anzutreffen ist und staunte nicht schlecht, als ich ihren Elefanten-Türstopper am Boden entdeckte. Sogleich zeigte sie mir noch ihre Marmor-Elefanten aus Carrara in Italien, das ich ebenfalls einst bereist hatte. Langsam entwickelte sich eine ganze Elefanten-Herde auf meinem Lebensweg, die scheinbar nicht enden wollte. Nachdem ich im Rahmen von Bridge to Hawaii und dem internationalen Umwelttag am Dienstag einen offenen Brief im Netz veröffentlicht hatte, in dem die Ohana, hawaiianisch für Familie, eine wesentliche Rolle spielte, begab ich mich am Mittwochabend zu einer Lesung der besonderen Art. Der Schriftsteller-Freund hatte mich dorthin gelockt und trotz, dass die junge Dame mit ihrem Debütroman nicht mein Interesse weckte, schmunzelte ich doch sehr über die zwei Elefanten auf einem Plakat, die mir bei umherschweifenden Blick ins Auge fielen. Ein anschließender, ausgiebiger Spaziergang mit dem Herrn durch den Hofgarten bis in die Nacht hinein, diente der Reflektion mit interessantem Gedankenaustausch und so gingen wir zufrieden wieder auseinander.
Erstaunliches trug sich dann am gestrigen Morgen zu. In einer Stadt am Rhein im südlich gelegeneren Teil des Landes beschloss ein Elefant den gastierenden Zirkus zu verlassen und alleine einen Spaziergang durch die Gegend zu unternehmen. Dabei wurde er von Passanten auf Zelluloid gebannt und gelangte so zu einer gewissen Berühmtheit im Netz, wo ich ihn entdeckte und herzlich lachte, als ich die Aufnahmen sah. Was das alles zu bedeuten hat? Ich weiß es nicht… es ist ein Wunder. Und die Glaskugel der Zukunft wird zeigen wohin es führt. Alles ist möglich und ich freue mich darauf, denn es könnte großes bedeuten. In diesem Sinne wünsche ich Dir eine wundervolle Zeit. Bis bald, mein Freund.
In Liebe und Aloha,
Alice
PS. Die letzten Worte gehören Albert Camus, der in seinen Tagebüchern von März 1935 bis Februar 1942 unter anderem schrieb:
„Wenn ich hier ein Buch der Moral schreiben würde,
hätte es hundert Seiten und 99 wären weiß. Auf der letzten Seite würde ich schreiben:
´Ich kenne nur eine Pflicht und es ist die Liebe.´“